Schüler der CBES besuchen dank Erasmusprogramm Berufskolleg in der Provinz Izmir
Demokratie fängt „unten“ an. Die Keimzellen für demokratische Einstellungen bei Menschen finden sich in der Familie und in der Schule. Hier werden die Fundamente gelegt, die ein Leben lang tragen können. Nicht umsonst verpflichtet das Hessische Schulgesetz die Schulen ihre Schülerinnen und Schüler zu mündigen Staatsbürgern zu erziehen, die Demokratie, Pluralismus und Menschenrechte achten, fördern und im Notfall verteidigen sollen.
Dank des Programms Erasmus Plus, mit dem die Europäische Union Begegnungen und Austausche von Schülern und Studierenden in Europa fördert, kamen Schülerinnen und Schüler von der Lollarer CBES und dem KOSBI Berufskolleg in Kemal Pascha miteinander über Demokratie und Partizipation an Schulen ins Gespräch. Bei sengender Hitze von 36 bis 40 Grad und zwei doch sehr unterschiedlichen politischen Systemen in beiden Staaten fanden beide Gruppen sehr gut in den Dialog. Im Zentrum des neuen Gesprächsformats standen dabei Chancen und Grenzen der schulischen Partizipation in Form von Schülerrat und SV.
Dass der Meinungsaustausch so gut vonstattenging, lag auch an der agilen, seit gut einem Jahr am westtürkischen Berufskolleg wirkenden Schulleiterin Nuray Ardic. Diese hatte in Kemal Pascha auf eigene Faust und entgegen der allgemeinen Gepflogenheiten an türkischen Schulen für jede Klasse Vertretungen und für die gesamte Schule einen Schülerrat eingeführt hat. Dass es sich beim KOSBI Berufskolleg um eine von lokalen Unternehmern gegründete Privatschule handelt, hat dieser Initiative sicherlich nicht im Weg gestanden. Vor fünf Jahren haben einige Firmen aus der Region sich im Angesicht des auch an der Westküste der Türkei grassierenden Fachkräftemangels dazu entschlossen eine eigene Bildungsstiftung und Schule mit den Schwerpunkten Metall, Digitalisierung und Elektrotechnik zu gründen. So werden aus einem Umkreis von bis zu 50 Kilometer talentierte und leistungsbereite Schülerinnen und Schüler auf Stiftungskosten zum Berufskolleg gebracht. Der Schulbesuch ist dabei für die meist aus nicht finanzkräftigen Elternhäusern stammenden Absolventen kostenlos.
Neben der Arbeit an demokratietheoretischen Fragen und Aspekten der Partizipation in Schule stand auch sehr viel türkische Willkommenskultur auf dem Programm. Die neunköpfige Schülergruppe aus Lollar wurde von den beiden Lollarern Lehrkräften Dr. Irfan Ortac und Katrin Akyüz begleitet. Auch Schulleiter Andrej Keller war Teil des mittelhessischen Izmirteams. Er dankte in seinem Eingangsstatement beim Erstkontakt zwischen den hessischen Schülerinnen und Schüler und den türkischen Gastfamilien neben der Schulleitung, den involvierten Lehrkräften in besonders herzlichen Worten den Eltern der Gastfamilien. Denn ohne ihre Bereitschaft Zeit, Geld und vor allem Gastfreundschaft zu Verfügung zu stellen, könnten solche Austauschprogramme nicht umgesetzt werden. Die freudestrahlenden Eltern, Schüler und Lehrkräfte aus Kemal Pascha honorierten diese Worte mit viel Applaus.
Die türkischen Gastgeber hatten sich bei der Gestaltung des Wochenprogramms viel Mühe gegeben. Bei der obligatorischen Schulführung wurden CNC-Fräsen ebenso wie Schaltschränke und 3D-Drucker von türkischen Schülern im besten Englisch präsentiert. Im Warm Up formulierten beide Gruppen ihre Erwartungen und Ängste für die kommende Begegnungswoche, bevor sie in gemischten Gruppen knifflige Bastelaufgaben zu lösen hatten. Schnell brach hier das Eis. Ein erster Höhepunkt war dann ein Theaterprojekt unter freien Himmel, in dem die Schauspieler in wechselnden Rollen aktuelle gesellschaftliche Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven betrachteten. Dramaturgisch und schauspielerisch auf hohem Niveau wurde in diesem Stück der Ruf nach Vielfalt, Toleranz und Akzeptanz diverser Lebensentwürfe propagiert und damit der liberale Geist des Berufskollegs überzeugend präsentiert.
Mit dem Besuch der antiken Stadt Ephesus- einem der touristischen Hotspots der Türkei und UNESCO-Weltkulturerbe – begann der demokratietheoretische Teil im Austauschprogramm. Auf der Agora, dem Marktplatz, wurde über die Ursprünge der Demokratie referiert, die Unterschiede zwischen antiker Polisdemokratie und moderner Massendemokratie sowie die Bedeutung aber auch Gefahr von rhetorischen Fähigkeiten herausgearbeitet. Einzelne Schüler konnten sich selbst als Demagogen im weiten Rund des antiken Theaters ausprobieren und argumentativ für ein eigenes Anliegen werben. Bildung und Ausbildung- z.B. in der riesigen und sehr gut erhaltenen Celsusbibliothek – brauche ein guter Redner schon, stellten beide Gruppen nach diesem intensiven Tauchgang in die antike Demokratiegeschichte fest.
Den Sonntag als Familientag verbrachten viele Partner entweder in der vierzig Kilometer entfernten Millionenmetropole Izmir oder direkt am Hausstrand der großen Hafenstadt. Blauer Himmel und anhaltende Hitzewelle luden deutlich zu einer Abkühlung im blauen Nass ein.
Die neue Woche startete mit zwei Pflichtterminen bei der Bezirksregierung und im Anschluss bei der Stiftung der Unternehmen, welche die Schule in Kemal Pascha finanziert. Hier wie auch in Gesprächen mit der türkischen Schulleitung wurde der Wunsch der Gastgeber an der Einführung von Deutschkursen und an Praktikumsmöglichkeiten in Deutschland für ihre Schüler thematisiert.
Für den Nachmittag hatte die türkische Schülervertretung einen PowerPoint-Vortrag zu ihrer Arbeit an der Schule vorbereitet. Dieser wurde durch theaterpädagogische Aktivitäten, bei denen die Erfahrung von Mitbestimmung und Diversität für jeden Einzelnen im Vordergrund standen, sehr eindrucksvoll bereichert.
Der weitere Nachmittag als auch der kommende Vormittag standen dann ganz im Zeichen der Mitbestimmung und des Vergleichs beider Schulen bei Fragen der Partizipation. Dazu entwarfen die Gruppen Schaubilder, auf denen die Formen der Schülermitbestimmung in Lollar und in Kemal Pascha nachvollziehbar verdeutlicht wurden. Überraschend gut referierten und erklärten die Neunt- und Zehntklässler aus Lollar im äußerst verständlichen Englisch den etwas älteren türkischen Schülern. Unterschiede und Gemeinsamkeiten wurden herausgearbeitet, Schwachstellen identifiziert und an die Schulleitungen adressiert.
So monierte die deutsche Seite die mangelnde Begeisterung und das geringe Engagement für Mitbestimmung in der Schülerschaft. Rechte und Möglichkeiten blieben ungenutzt, vielmehr als Selbstverständlichkeiten nicht wertgeschätzt. Dabei gebe es von der baulichen Situation über die Fächerauswahl bis zu deren Inhalten und Methoden doch einiges an hessischen Schulen zu kritisieren. Die türkische Gruppe dagegen sraunte die gesetzliche Sicherung der SV-Arbeit im hessischen Schulgesetz und wünschte sich geheime Wahlen für die Klassen- und Schulvertretungen.
Noch sensibilisierter für die Relevanz der Mitsprache von allen Schülerinnen und Schülern gingen beide Gruppen aus dieser intensiven Arbeitsphase heraus. Die türkische SV-Vertretung suchte sogar unmittelbar und selbstbewusst das Gespräch mit der Schulleiterin, um ihre neu entwickelten Reformvorschläge vorzutragen.
Es war spannend zu sehen, wie der ursprüngliche Wunsch nach Harmonie bei beiden Gruppen in einem positiven demokratischen Sinne dem Bedürfnis wich, eigene Interessen und Wünsche zu artikulieren und einzufordern.
Befördert wurde diese Einstellung durch den Besuch einer Kunstausstellung in Izmir. In einer Liegenschaft der Stiftung Bayetav wurden die Schülerinnen und Schüler mit Werken eines Künstlers zum Thema „Diversität der biologischen Vielfalt und Kulturen in Anatolien“ konfrontiert. Die Ausstellung selbst bot einen sinnlich-ästhetischen Zugang zur lokalen Biosphäre und verband dieses Thema mit dem Zusammenleben vieler unterschiedlicher Kulturen in Gegenwart und Geschichte in Izmir und Umgebung. Jenseits ethnischer Verengung gelang ein deutliches Plädoyer für ein friedliches, tolerantes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Traditionen. Aber auch der starke Apell des Künstlers den Schutz der Biodiversität zu forcieren, fand einen großen Widerhall auf deutscher wie türkischer Seite.
Am letzten Tag präsentierten die türkischen Gastgeber ihren modernen, stark handlungsorientierten Unterricht, der alle zum Mitmachen einlud. So wurde klassisch genäht und gestickt, Schaltschränke zusammengebaut aber auch an einem virtuellen Schweißgerät das Punktschweißen trainiert und in Echtzeit auf eine Leinwand projiziert. Dies sorgte bei allen Beteiligten für große Heiterkeit.
Die Schülerinnen und Schüler wie auch die deutschen Lehrkräfte waren begeistert von der Vielfältigkeit und der Tiefe des abwechslungsreichen Programms. Dies wurde von einem engagierten Team rund um die Schulleiterin mit viel Leidenschaft zusammengestellt. Neben dem starken Fokus auf Fragen von konkreter, auf die Lebenswelt der Schüler bezogenen Mitbestimmung und Teilhabe präsentierte die Schule aber auch immer wieder neue, digitalaffine Unterrichtssettings sowie künstlerisch-ästhetische Zugänge zu gesellschaftlichen Problemlagen.
Bei aller Güte des Programms war das wirkliche Highlight der gemeinsame Abend im Begegnungshaus der Schule. Bei lauem sommerlichem Wetter spielte eine Band aus Ostanatolien türkische Livemusik. Ein Buffet lud zum Essen ein und parallel zur Musik wurden auf der Bühne Cig Köfte zubereitet. Fast alle tanzten ausgelassen, aßen zusammen und unterhielten sich in vielen Sprachen über Gott und die Welt. Mehr als an diesem Abend kann ein Austausch zwischen zwei Schulen für die Völkerfreundschaft und die interkulturelle Offenheit nicht leisten.
Schulleiter Andrej Keller war sehr zufrieden mit der Woche in Kemal Pascha. „Was hier auf die Beine gestellt wurde, ist wunderbar. Davon werden die Schülerinnen und Schüler beider Länder noch sehr lange von zehren.“
Neben Eltern und Lehrkräften, die auf beiden Seiten großen Einsatz gezeigt hatten, wurde dieses Austauschprojekt vor allem durch die großzügige finanzielle Unterstützung der Europäischen Union im Rahmen des Erasmus Plus Programms ermöglicht. Die Arbeit des Lollarer Erasmusteams, die sich mit viel Enthusiasmus für die Akkreditierung der CBES als Erasmus Plus Schule im Herbst 2023 eingesetzt hat, hat sich hier schon mal sehr gelohnt. Weitere Fahrten nach Krakau und Norwegen sind schon für den September geplant.