Damit Literatur keine verstaubte, unbegreifliche Materie bleibt, hilft die Nutzung alternativer Wahrnehmung und das war der Anlass für einen erneuten fachübergreifenden Ausflug der 12er.
Teile der Gruppe vor dem Erwin-Piscator-Haus (Stadthalle) Marburg
Die Fächer Deutsch und Darstellendes Spiel besuchten die Inszenierung des „Woyzeck“ im Hessischen Landestheater Marburg, um sich der nicht ganz einfachen Lektüre anzunähern.
In der Oberstufe gibt das Kultusministerium eine sogenannte „Literaturliste“ vor, die hauptsächlich von Klassikern geprägt ist. Nicht unbedingt der Stoff für junge Erwachsene im Jahre 2024. Aber in diesen, für das heutige Seh-Lese- und Konsumverhalten oft sperrigen, Werken stecken doch auch Botschaften für die Gegenwart – man muss sie nur herausarbeiten. Und das hat das Marburger Ensemble für zahlreiche Schulklassen in Hessen getan.
- Was steckt also drin im Woyzeck?
- Welche Werte, Probleme und Mechanismen sind 2024 wieder und immer noch oder unter völlig anderer Perspektive brandaktuell?
Marburg verachtfachte den getriebenen und gedemütigten Woyzeck aus Büchners sozialkritischem Werk des Vormärzes. Eine Phase in der mitteleuropäischen Geschichte, in der sich der sogenannte Dritte Stand seiner Unterdrückung einerseits, aber andererseits seiner Wertigkeit und Bedeutung in und für Gesellschaft bewusst wird und beginnt, an den Grundpfeilern der feudalen Monarchien zu rütteln. Eine Zeit des Umbruchs und der Keim für eine potentielle Neuordnung der Gesellschaft, die in der Französischen Revolution begann.
Büchner hat dieses Werk niemals beendet, sondern hinterließ der Nachwelt nur zahlreiche Szenenfragmente, die ungeordnet und teilweise inhaltlich unterschiedlich, immer wieder von der Nachwelt neu geordnet werden.
Diese Unordnung und Willkür transportiert das Marburger Ensemble auf die Bühne. Alle Spielerinnen sind Woyzeck, übernehmen aber kurzfristig auch die Rolle einer der anderen Figuren. Ständiges sich wiederholendes Stimmengewirr – mal einzelne Aufforderungen, mal im Chor gesprochene Beleidigungen – hämmern auf „den“ Woyzeck ein. Ein ständiges Hin-und-Her auf der Bühne versinnbildlicht das Gehetzt-Sein des in prekären Verhältnissen Lebenden. „Er“, der für das Überleben seiner kleinen Familie sorgen will / muss wird ständig von seinen drei „Chefs“ gefordert und gemaßregelt. Das Rasieren des aufgeblasenen Hauptmanns, medizinisches Versuchskaninchen bei der Erbsendiät des Doktors und Tätigkeiten eines einfachen Soldaten sind in ständiger Hetze zu erledigen, um die Existenz der kleinen Familie zu sichern.
Andauernde Unterwürfigkeit und Ausgeliefertsein in seiner Abhängigkeit zu den sozial und gesellschaftlich über ihm Stehenden kennzeichnen die Körpersprache des Woyzeck. Am Ende steht die totale Überforderung – das Burnout.
Und in all diesem Stress entgleitet ihm auch noch seine Lebensgefährtin – hat sie eine Affäre … mit dem Tambourmajor – dem eitlen Fatzken????
Durchbrochen wird das alltägliche Grau durch Szenen, in denen das Ensemble auf die anderen Rollen dieses Woyzeck hinweist – als Liebhaber und Partner oder als Vater. Plötzlich kommt Farbe ins Spiel. Ausgelassene Fröhlichkeit, zarte Körperlichkeit und schützende Fürsorge werden in unterschiedlichen Formen zwischen den Spielende dargestellt. Lichtblicke im tristen, gehetzten und devoten Alltag eines am Rande der Gesellschaft Stehenden.
Und immer wieder das Klavier, das mittig auf der „Laufbahn“ seines Lebens steht, wie eine Insel, ein Versteck, ein Dreh-und Angelpunkt.
Und am Ende … warum müssen immer alle Frauen in den Klassikern sterben?
Warum muss in Dramen immer dieser scheinbar „alternativlose“ Schritt gegangen werden??
Welche Möglichkeiten der Konfliktlösung bieten sich heute???
Das HLTM verweigert die Tötung der Marie auf der Bühne und eröffnet Möglichkeiten und erweitert Perspektiven: Gewaltprävention, emphatische Nachbarinnen, das Frauenhaus….
Spätestens an dieser Stelle wurde jedem Zuschauenden deutlich, dass Gewalt gegen Frauen ein Thema war und ist. In diesem dokumentarischen und wohl auch biografischen Moment der Inszenierung wird deutlich, auch heute erleben Frauen in einem aufgeklärten, demokratischen Rechtsstaat immer noch, dass Gewalt gegen sie stattfindet. Dass Femizide erst langsam ins Bewusstsein unserer Gesellschaft sickern. So sind Maßnahmen gegen häusliche Gewalt noch nicht wirklich lange juristisch zu ahndende Delikte.
Sehen das auch wirklich alle Teile unserer Gesellschaft so?
Stress und Überforderung, toxische und gewaltsame Beziehungen bis hin zum Femizid und soziale Ausgrenzung durch prekäre Lebenswelten – wenn das nicht Themen sind, die auch 2024 noch andocken können?
Und was bringt es den Schülerinnen und Schülern für die Fächer konkret?
Sprechen über unterschiedliche Auslegungen des „alten Stoffes“, angeregt durch die Visualisierung einer Theaterinszenierung, machen Klassiker auf jeden Fall gegenwartstauglicher als das reine Lesen und Besprechen in mehr oder weniger attraktiven Klassenräumen. Im Profi-Theater erkennt der / die DS-Schülerin, wie Inhalte des Faches ihre Anwendung finden; deren Wirkweisen werden deutlicher und mögliche Intentionen durchdacht. Und in Deutsch werden verwirrende Szenenfragmente visuell und auditiv erfassbar – erhalte einen Kontext, der beim Lesen selten in dieser Dimension deutlich wird.
Den eigenen Horizont für alternative Sichtweisen erweitern. Darüber zu diskutieren und andere Perspektiven zu akzeptieren. Über die eigene Komfortzone hinausgehen und alternative Sinneserlebnisse zulassen. All das sind Kompetenzen, die die aktuelle Gegenwart von uns fordert. Und diese Exkursion nach Marburg bot die Möglichkeit dazu.
Nach dem „Sandmann“ (2020 +2022) und „Woyzeck“ (2024) sind wir gespannt, welch neuen Möglichkeiten uns die Leseliste nächstes Jahr bietet.
Liebes Kultusministerium es gibt Chancen – nutzt sie!!
Die Bilder entstanden in der Nachbesprechung des DS-Kurses.