Sie habe eine harte Schulzeit in Bulgarien erlebt, so berichtet Antonia Bontscheva und seufzt bei dem Gedanken an das tägliche Lernpensum von 80 Vokabeln, der strengen Disziplin und dem rigiden Umgang mit Minderleistungen. Die Eltern hatten ihre Tochter an ein angesehenes Sprachengymnasium in Varna geschickt. Als junge Frau habe sie später Bulgarien den Rücken gekehrt und sei nach Ost-Berlin gegangen, um dort Germanistik zu studieren. Wie sich der Sozialismus der damaligen DDR von ihrem Heimatland unterschieden hätte, kommt die Frage aus dem Publikum. Bontschevas Antwort darauf: „Die DDR war ohne Sinnlichkeit. Nie gab es etwas Frisches zu essen. Es fehlte an Obst und Gemüse. Ganz anders als bei uns in Bulgarien, wo das Essen sehr wichtig ist.“ Das Essen schildert die Romandebütantin sodann eindrücklich in einer Zugabteil-Szene auf der Fahrt nach Gyueschevo mit Oma Denka. Komik und Ernsthaftigkeit stehen sich Seite an Seite, typisch für Antonia Bontschevas Erzählweise. Die vollgepackten Provianttaschen der Passagiere, scharfe Hackfleisch-Bällchen, gefüllte Pfannkuchen, Schafskäse und Selbstgebrannter bilden den Auftakt für eine hitzige Gesellschaftsanalyse der Figuren. Lautstark politisieren die Fahrgäste über die anstehenden Parlamentswahlen nach dem Untergang des Kommunismus, über die „Verbrecher von Kommunisten“ und über die „Chaoten von Demokraten“.
Antonia Bontscheva schickt uns mit ihrer von einer Identitätskrise geplagten Ich-Erzählerin auf eine Spurensuche in die jüngere Geschichte Bulgariens. Bemerkenswert ist dabei die betont weibliche Perspektive. Jene beherrscht den Roman und verleiht dem ganzen Vorhaben eine schonungslose Offenheit. Totgeschwiegenes, Verdrängtes, teilweise Erschreckendes wird ans Tageslicht befördert. Und so wird es sehr still, als die Autorin z. B. das Schicksal von Dr. Atanasov anreißt, dem verstorbenen Vater der Ich-Erzählerin. Die Kommunisten degradieren jenen aufgrund seiner Widerspenstigkeit vom fähigen Chirurgen zum Landarzt, was ihn seelisch zermürbt. Fazit: Der Roman ist die unverstellte Sichtweise auf die bulgarische Gesellschaft jener Zeit, auf das Treiben von Faschisten und Kommunisten, auf die Ausweglosigkeit im Angesicht von politischer Unterdrückung, auf den Stillstand, auf das Sich-Arrangieren mit den herrschenden Verhältnissen und den Umgang mit westlicher Demokratie. Dass ihre Hauptfigur niemals mit Namen benannt wird, sei der sympathischen Autorin erst aufgefallen, als das Manuskript schon beim Verlag zum Druck bereit lag. Ob beabsichtigt oder unbeabsichtigt, das könne sie so gar nicht recht sagen. Der Frankfurter Verlagsanstalt jedenfalls schien es gefallen zu haben, und dem Publikum auch, das den Weg zu einer impulsiven Lesung gefunden hat. Unser abschließender Dank gilt dem Staatlichen Schulamt, das uns in der Projektierung dieses literarischen Abends tatkräftig unterstützt hat.