Prolog
Eine politische Documenta wollten die Kuratorinnen und Kuratoren präsentieren, eine, die der südlichen Erdhalbkugel eine Stimme gibt. Was aber ist aus dieser Ankündigung geworden? Sieht man einmal von der geographischen Verortung der eingeladenen Künstlerinnen und Künstler ab, so zeigt die Ausstellung, entgegen den Erwartungen, kaum neue formale oder inhaltliche Aspekte.
Meist bleiben die Arbeiten im Plakativen verhaftet, die Botschaften wirken einfach oder so „verkopft“, dass man sie nicht verstehen kann. So argumentierte übrigens auch unser Guide (Sobat), der dann noch hinzufügte, „und ich gehe davon aus, dass auch der Künstler (gemeint war der Mexikaner Erick Beltran mit seiner Installation „Manifold“) nicht immer sagen kann, was er im Detail mit dem Werk aussagen möchte“. Dies wird zwar durch die Erklärungen des Künstlers und der Fachpresse widerlegt, sagt aber einiges über die Professionalität der Sobats aus. Dennoch, ohne exaktes Hintergrundwissen über die persönliche Vita der Künstlerinnen und Künstler sind einige Arbeiten einfach nicht zu entschlüsseln.
Erick Baltran – Manifold
Nach Information der Documenta Fifteen erforscht Erick Beltrán in seiner Arbeit „Manifold“ das Konzept der Edition. „Sie rückt die Mechanismen in den Fokus, die Bilder und Diskurse definieren, bewerten, klassifizieren, reproduzieren und verbreiten, um in gegenwärtigen Gesellschaften soziale, kulturelle, politische und ökonomische Verhaltensweisen und Werte zu kreieren.“ Er analysiert und reflektiert die Mechanismen von Denksystemen, insbesondere das Machtverhältnis, das zwischen dem Editionskonzept beziehungsweise dem Redaktionsprozess und der Art und Weise der Wissenskonstruktion besteht. Das heißt, Erick Beltran untersucht die Macht, die die unterschiedlichen grafischen Mittel in ihrer Informationsvermittlung ausüben, sowie den expliziten Umgang mit unterschiedlichen Verhaltensweisen und Werten. Ein Redaktionsprozess versteht er als Mechanismus: Mit der Kommunikation durch Bilder werden politische, wirtschaftliche und kulturelle Diskurse in zeitgenössischen Gesellschaften erzeugt, definiert, bewertet, eingeordnet und reproduziert. Erick Beltran arbeitet dabei mit unterschiedlichen Medien und experimentiert mit der Verbindung zwischen öffentlicher Kunst sowie verschiedenen grafischen Sprachen und untersucht das Museum, die Bibliothek und das Archiv als Wissensformen“.
Tibor Pezsa schreibt dazu in der HNA.
„Das Staunen über Bilder und Geschichten steht am Anfang eines interessanten Werkes der documenta fifteen: „Manifold“ (Mannigfaltigkeit) von Erick Beltrán im Sepulkralmuseum.
Wer oder was bestimmt eigentlich über die Bilder und Geschichten, die wir für so wahr halten, dass uns gar nicht mehr auffällt, dass es nur Bilder und Geschichten sind? Was ist selbstverständlich? (…)
Und was erzählen wir uns so? Warum ist hier ein Anfang und dort ein Ende? Was hält das zusammen, was wir ein Einzelnes nennen? Und was macht eine Vielheit so mächtig, dass sie viele Einzelheiten unter ihrer Herrschaft vereinen kann? Und da schwebt sie: eine Skulptur, ein in sich verwundenes Relief, umgeben von großen, detailliert-wissenschaftlichen Skizzen und Formeln. Ist dies das Zentrum von Beltráns Werk?
Wie ein großes Herz, wie ein Zentralorgan, dominiert die Skulptur den Raum. Doch da ist ein bildhafter Widerspruch: Dieses Herz ist keins, es hat kein Inneres, keinen Kern, kein Zentrum. Das Hauptereignis von „Manifold“ besteht aus Oberfläche, es ist so mannigfaltig wie all die anderen Bilder und Geschichten. Und doch gilt ihrem mythischen Glutkern das Interesse des Künstlers, seine Leidenschaft, Sehnsucht, ja wahrscheinlich auch Furcht. „Wenn man zu weit geht“, sagt er, „ist das wie ein Zittern.“ Es ist, als wehrten sich die Bilder, als gäbe es immer nur sie selbst, nie das, worauf sie doch anscheinend in endlosen Perspektiv- und Motivwechseln hinweisen“.
Kein Wunder, dass in den Gesprächen der Studenten mit Beltrán die Figur des Rumpelstilzchens auftauchte, eine erzählerische Variation des faustischen Teufelspakts: Man kann einen Handel mit dem Teufel abschließen, um Macht über eine Geschichte zu bekommen. Aber dann und deswegen zerreißt es einen. (…)
Das neue Selbstbewusstsein des „Globalen Südens“ ist zwar grundsätzlich zu begrüßen, es wirkt im ersten Moment auch erfrischend, aber einige belehrende Aktionen sind doch banal. Beispielsweise muss man dem „westlichen“ Besucher nicht den Wert vom schonenden Umgang mit Wasser erklären oder den Wahnsinn in der Textil- und Bekleidungsindustrie aufzeigen, der in den Produktionsländern an den Manchester- Kapitalismus des 19. Jahrhunderts erinnert. Wir wissen im „Norden“ sehr wohl um den Klimawandel und andere Missstände, nicht zuletzt, weil wir sie zum größten Teil durch unser Handeln selbst verursacht haben. Erhard Eppler hatte schon vor mehr als 50 Jahren auf den massiven, negativen Einfluss des Kapitals auf die Ökologie hingewiesen. Spätestens nach dem Fall der Mauer, 1989, nach dem „Sieg“ des Kapitalismus über den Kommunismus war aber der Weg vorgezeichnet. Diese in den Werken sichtbaren Mängel des Wirtschaftssystems werden meist in „Erro – Manier“ auf überwiegend billboardartigen Bildwänden verarbeitet, sie erreichen aber nur selten das Niveau des Isländers.
Einige Themen, die etwa in Indonesien ein Tabubrecher waren und sind, sind hier in Kassel, in Deutschland und Mitteleuropa und in der westlichen Welt elementarer Bestandteil unserer freien, demokratischen Lebensweise.
Homemade – Ökoaktivisten und Selbstdarsteller, die in Workshops mit interessierten Besuchern „Kunstwerke“ erstellen und diese dann im edlen Museumsumfeld wie der Grimmwelt präsentieren, können sich eigentlich nicht auf einen pseudo-demokratischen Kunstbegriff zurückziehen, der ständig das Kollektiv postuliert. Für den neutralen Betrachter sind die dort entstandenen Arbeiten eben keine Kunstwerke, sondern sie besitzen maximal Volkshochschulcharakter.
Dennoch lassen sich auch noch weitere interessante Kunstwerke auf der Documenta 15 finden.
Instituto de Artivismo Hannah Arendt und Nabwana IGG – Wakaliwood
Überzeugen konnten zum Beispiel die Arbeiten des Instituto de Artivismo Hannah Arendt (INSTAR), INSTAR archive, List of censored Artists, 2022 (hier eine Installationsansicht im Detail).
Es werden mannshohe Streichholzköpfe von zensierten und inhaftierten Künstlerinnen und Künstlern im Post – Fidel Castro – Zeitalter gezeigt. Zumindest sorgte die Atmosphäre in dem abgeteilten Nebenraum der Documentahalle mit seinen zum Verweilen anregenden kleinen „Schatten spendenden“ Gärten für ein Nachdenken über Zensur und einen staatlich gelenkten Kulturbetrieb.
Auch der Spielfilm „Football Kommando“ des Regisseurs Nabwana IGG mit der Gruppe Wakaliwood ist sehenswert. Es geht um Gewalt, Entführung, Erpressung in den Slums von Uganda! Der Sohn des Fußballers Rumeniger, gemeint ist hier Karl-Heinz Rummenigge, wird von einer Gang entführt. In teilweise abstrusen Filmszenen mit verschlüsselten Botschaften und kruden Dialogen wird die alltägliche Gewalt in den Slums dokumentiert.
Die Antisemitismusvorwürfe waren und sind eindeutig berechtigt!
Aber, die ständigen Diskussionen überlagerten auch die guten Ideen und Werke von Künstlerinnen und Künstlern, die seriös arbeiteten.
Vielleicht haben die Verantwortlichen nicht so genau hingeschaut, was ihre Aufgabe gewesen wäre. Als man dann das Banner des Künstlerkollektivs Taring Padi abhängen musste, war der Skandal publik. Das Werk ist 20 Jahre alt und wurde schon auf einigen Ausstellungen gezeigt, warum hat man nicht im Vorfeld reagiert?
Die „Vergleiche“ von Angriffen der Israelis auf Gaza, die übrigens immer eine Antwort auf vorherigen Raketenbeschuss durch die Hamas sind und waren, und denen der deutschen Legion Condor auf Guernica, der „heiligen“ Stadt der Basken im Norden Spaniens, sind haarsträubend. Es geht aber nicht darum einen Bildersturm zu initiieren, sondern um einen angemessenen Umgang mit antisemitisch belegten Werken zu finden. So wäre sicherlich die anberaumte Podiumsdiskussion mit den Künstlern und Kritikern sowie dem Publikum ertragreicher gewesen. Dazu ist es aber trotz einiger Initiativen nicht gekommen, weil sich die indonesischen KuratorInnen der öffentlichen Diskussion entzogen.
Der Vorwurf der Zensur ist hier nicht haltbar, auch dann nicht, wenn man aus dem Expertenrat heraus die Forderung nach der Entfernung einiger Werke stellte. Diese Arbeiten hatten mit ihrer Ikonografie jegliche menschenwürdige Ebene verlassen. Bei den Inhalten der beanstandeten Werke handelte es sich auch nicht nur um Stereotypen, sondern um eindeutige propagandistische und antisemitische Statements. Ruangrupa ist nachweislich stark durch die BDS-Kampagne und ihren latenten Antisemitismus geprägt und beeinflusst. Dementierungen durch die Gruppenführung sind scheinheilig und zeigen, dass man bewusst provozieren wollte. Antisemitismus ist und bleibt, übrigens auch in muslimisch geprägten Gesellschaften, Antisemitismus.
Künstlergruppe Eltiqa
Aus der palästinensischen Künstlergruppe Eltiqa heraus entstanden aber auch beeindruckende Werke. Wolf Vostell postulierte einmal den Slogan „Wegwischen, um klarer zu sehen“. Eine Künstlerin aus dem palästinensischen Kollektiv zeichnet in einer Endlosschleife auf Video detailliert architektonische und kulturspezifische Merkmale aus verschiedenen Epochen ihrer Heimat, die an die Sitten und Gebräuche der jeweiligen Herrscher und Eroberer erinnern. Die mit Kohle und schwarzer Kreide aufgetragenen Artefakte werden von ihr später mit der flachen Hand wieder weggewischt und danach entsteht auf der Basis der alten eine neue Zeichnung. Eine eindrucksvolle, weil sehr einprägsame Kunstaktion, die den Kulturimperialismus thematisiert.
Epilog
Jede Documenta hatte bisher ihre Kritiker. Immer wurden die ausgestellten Werke auf Studentenniveau eingestuft. Immer wurde die Intention der Kuratoren kritisiert. Immer wurden einzelne Werke als Nichtkunst deklariert….
Aber der Beleg dafür, dass es sich dieses Mal anders verhält, ist der fahrlässige Umgang mit offensichtlichem Antisemitismus. Nein, es ist nicht nur eine reflexartige, deutsche Art des Umgangs mit der Problematik, sondern ein globaler! Man könnte nun wieder die Keule der Elitenschelte schwingen, aber auch damit ist man der Erklärung nur ein kleines Stück nähergekommen. Man fragt sich aber schon, warum weder die unmittelbaren noch mittelbaren Entscheidungsträger so kläglich versagt haben. Der SPIEGEL spricht hier zu Recht von „Kontrollverlust“.
Und, was für Konsequenzen wurden und werden aus dem Desaster gezogen? Schauen wir einmal. Zumindest wurde von unserer Kulturministerin Claudia Roth die Verantwortung auf die Kuratoren und Frau Schormann abgeschoben. Typisch für den Umgang mit Verantwortung, wegducken!
Ein Resümee der zweitägigen Kunstexkursion am Ende des Schuljahrs 2021 / 2022 des Leistungskurs Kunst der CBES:
Es fällt besonders auf, dass die auf der Documenta zur Schau gestellte „Sichtweise des Südens“ überhaupt nicht von der des Nordens abweicht.
Michael Kühn, Kunstlehrer A.D. und LK Kunst im September 2022