Jerewan, Aschtarak, Artaschat, Kars, Ordu: Es sind die geographischen Knotenpunkte im Koordinatenkreuz des 2019 erschienenen Romans „Hier sind Löwen“. Im Hintergrund der in Ostanatolien liegende mächtige Berg Ararat, der stumme Zeuge, vor dem sich das Trauma der Vergangenheit entrollt, die Ermordung und Vertreibung des armenischen Volkes zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ein schwieriges Thema, von der Autorin in eine beklemmend realistische literarische Form gegossen. „Ich wollte die Fragen stellen, die mein Vater nie an seinen Vater gerichtet hat, erklärt die in Berlin beheimatete Katerina Poladjan und beginnt von ihrer Familiengeschichte zu erzählen. Die Flucht ihres Großvaters und dessen Schwester, beide damals noch Kinder, habe ihr den Impuls gegeben, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Die dramatische Flucht der 14-jährigen Anahid und ihres fünfjährigen Bruders Hrand im Roman sei am Schicksal des Großvaters angelehnt. Allerdings – so räumt Katerina Poladian auch ein – sei die Handlung frei erfunden und spekulativ. Es ginge ihr vornehmlich um das „Wie es gewesen sein könnte“.
Katerina Poladjan liest, liest souverän und erzählt, geht auf die Fragen der Moderation und des Publikums ein. Das Auditorium lauscht und befindet sich schon nach wenigen Seiten in der fernen Kaukasusrepublik. Ihre Sätze sind klar, unmissverständlich, bildreich und spannend zugleich, ihre Dialoge pointiert und handlungstreibend. Katerina Poladjan besitzt die Gabe, sich den tragischen Geschehnissen auf ihre ganz eigene einfühlsame Weise schriftstellerisch zu nähern. Schicht für Schicht dringt sie in die Vergangenheit vor, indem sie einen zweiten großen Handlungsstrang im Roman knüpft. Wir schauen ihrer Hauptfigur Helen Mazavian bei der komplizierten Restauration einer alten armenischen Familienbibel zu. Der alte zerschlissene Buchblock, aus dem sich die tragische Fluchtgeschichte der beiden Geschwisterkinder entspinnt, ist das Bindeglied zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Die Autorin schickt Helen sodann durch das moderne Armenien, lässt sie nach ihren armenischen Wurzeln graben. Der Erzählton und die Atmosphäre wandeln sich. Das literarische Geschehen, die Figuren und Szenen, wirken plötzlich tragisch-komisch, skurril und grotesk, eine emotionale Verschnaufpause für Zuhörerinnen und Zuhörer. Katerina Poladjans humorvolle Seite tritt zutage.
Die Geschichte lehrt uns. Aus der Vergangenheit zu lernen ist unsere kollektive Aufgabe, so wird zwischen den Zeilen deutlich. „Hier sind Löwen“ ist ein gutes Beispiel dafür, was Literatur im besten Fall leisten kann. Sie vermag Kraft ihres Wortes den Dialog und das Aufeinanderzugehen zwischen den Kulturen zu fördern. Zurecht wurde Katerina Poladjan 2021 der „Nelly-Sachs-Preis“ der Stadt Dortmund für ihren Roman verliehen und zurecht wurde sie für den „European Prize of Literature“ nominiert.
Möglich gemacht wurde der Abend nicht zuletzt durch die Unterstützung des Staatlichen Schulamts für den Landkreis Gießen und den Vogelsbergkreis. Wir sagen Dankeschön an dieser Stelle!